Sonntag, 29. September 2013

Andreas Eschbach, Todesengel

"Wir Menschen sind sensibler, als die meisten von uns ahnen. Hätten wir keinen Filter im Hirn, die Flut der Sinneseindrücke würde uns überwältigen. Man kann diesen Filter ausschalten. Ich kann es."
Der so denkt, streift nachts durch die Straßen der Großstadt, als bewege er sich durch einen "ungeheuren, lebendigen Organismus". Er ist auf dem Pfad des Kriegers und er hat Geduld.
Im richtigen Moment erreicht er den Abgang einer Metro-Station. Schmerz flammt heraus wie ein Fanal. Todesangst. Er wird im entscheidenden Moment erscheinen, das Richtige tun. Jetzt!

Erich Sassbeck wartet auf seine U-Bahn. In seinem Kopf geistert noch die Diskussion mit seiner Tochter über Zivilcourage herum, als er sieht, wie zwei Jugendliche eine Bank demolieren. Sassbeck will endlich mal Zivilcourage zeigen, es seiner Tochter Evelyn beweisen. Er geht auf die Jungs zu, die schwer unter Alkohol stehen, spricht sie an. Sie schlagen zu. Immer und immer wieder, bis Sassbeck am Boden liegt.

Eine Zeugin wird später aussagen, dass im richtigen Moment ein Engel erschienen sei, um Sassbeck zu rächen. Ein Engel, strahlend weiß und lautlos.
Auch Sassbeck berichtet von dem leuchtenden Engel mit dem gnadenlosen Blick.
Mit erhobenen Armen und in jeder Hand eine Makarow.

Ingo Praise, 28 Jahre, glaubt nicht mehr an den Job seines Lebens. Als freier Journalist muss er froh über jeden Auftrag sein.
Dann der Fall mit dem Todesengel. Selbstjustiz! Vorbei die Zeit der Resignation.
Ingo bekommt über die Reportage eine eigene Fernsehshow, ist jetzt Moderator. Doch das Gefühl, selbst über die Inhalte der Show bestimmen zu können, verliert sich mehr und mehr.
Die Medien stürzen sich auf Sassbecks Rolle in der Zeit als Grenzer in der DDR.
Irgendwann befindet Ingo Praise sich auf einer gefährlichen Gratwanderung. Wer ist eigentlich Opfer und wer Täter von Gewalttaten? Hat er noch die Kontrolle über seine Sendung?
Die Story bekommt dann immer mehr Tiefe. Überhaupt nicht klar ist, wer sich hinter dem Todesengel verbirgt. Und um vorab keine Spannung weg zu nehmen, soll das soweit genügen.

"Todesengel" ist eine sehr komplexe Story, die viele Fragen aufwirft. Allen voran die Frage, wie berechtigt Selbstjustiz ist. Es geht um Zivilcourage, Mut und Selbstvertrauen. Um Kampfsport außerdem und um die Macht der Medien.

Wieder ein ganz anderer Eschbach als alle vorherigen. Aber das macht das Lesen seiner Thriller auch so wertvoll. Es gibt kein Schema, keinen roten Faden. Und das Ende kommt dann garantiert total überraschend. Man kann diesen Roman übrigens auch wunderbar hören. Gelesen von Matthias Koeberlin, ist dieses Hörbuch ein ganz besonderer Genuss.






Samstag, 21. September 2013

Joana Zimmer. Blind date. Die Welt mit meinen Augen sehen

Diese autobiographische Geschichte der Sängerin Joana ist mehr als nur ein Buch über ihr Leben, ihre Songs. Doch dazu später mehr -
Bereits der Einstieg in die Story ist super spannend und sehr atmosphärisch, wenn sie im Kapitel Miss JZ in concert von einem Auftritt erzählt:
"Der Wagen hält. Die wenigen Schritte zum Bühneneingang gehen wir gemeinsam. Ein Flur, links, rechts..... wir gehen schweigend, konzentriert. .... Das Stimmengewirr der Menge dringt zu mir. Ausverkauft heißt es. Was wird dieser Abend bringen? ...Plötzlich die Spots, nur wenige Schritte sind es zum Mikro. Applaus brandet auf.... Ich spüre die Band hinter mir, kann mich auf alle verlassen, die mit mir sind..."
Dieses großartige Gefühl, das sich hier aufbaut - irgendwie fühlt man sich erinnert an die erste Szene im Film "Jonny Cash", kurz bevor er den berühmten Folsom Prison Blues singt. Dieses Stampfen und rhythmische Klatschen der Mithäftlinge, seinen Fans. Man fiebert mit.

Passend zum jeweiligen Inhalt, sind alle Kapitel in "Blind date" mit Joanas Songs überschrieben. Tolle Idee!
So erzählt sie in Not looking back über Schwierigkeiten und Enttäuschungen, die sie auch immer als Herausforderung gesehen hat. Und egal, was passiert, sie geht weiter mit dem Blick nach vorn.

In Papa can you hear me ist das Thema ihre Familie. Man spürt, dass von Kindheit an viele Menschen Joana liebevoll erzogen und sie geprägt haben. Allen voran ihre geliebte Großmutter.
Der Großmutter ist überhaupt auch das Buch gewidmet. Sie ist es, die man immer und überall zwischen den Zeilen spürt, als hätte sie beim Schreiben über Joanas Schulter geschaut. Lächelnd, weise, voller Liebe und mit diesem unerschütterlichen Optimismus und der Gabe, immer die positiven Seiten im Leben zu sehen.
Joana hat diese Dinge übernommen. Auch und ganz besonders, wenn es um ihr Handicap geht.
Als würde sie sagen, okay, ich kann nicht sehen, aber es gibt doch unendlich viele Möglichkeiten, das Leben zu genießen .
Ein Beispiel sind die Ferien in Tirol und ihr lakonischer Satz:
"Wer sagt denn, dass man beim Skifahren sehen können muss?"
Ihre Power und ihr Ideenreichtum scheinen grenzenlos. Manche Passagen sind spannend wie ein Thriller. Atemlos liest man über ihren Weg von der ersten Demo-CD (selbst gebrannt und allein versendet an unzählige Plattenlabels) bis zum Platz 2 in den deutschen Single-Charts 2005.
Oder über den Wechsel von BMG zu Universal.

"Blind date" ist auf jeden Fall ein sehr persönliches Buch. Man hat nach dem Lesen das Gefühl, ihr ein Stück näher gekommen zu sein. Egal ob es um Yoga, Singen, Tanzen, Sinnlichkeit oder Fashion geht.
Doch es ist auch ein Buch, in welchem unglaublich viel Power steckt.
Eine Story, die zeigt: So geht es auch!!!!
Inspirierend und einzigartig, kraftvoll und sensibel zugleich.





Dienstag, 10. September 2013

Sven Regener. Magical Mystery oder Die Rückkehr des Karl Schmidt

Raimund und Ferdi, die alten Kumpel aus Berlin, suchen einen Fahrer. Die Berliner Mauer ist weg, es sind die 90er Jahre und die beiden haben in Berlin ein Plattenlabel gegründet, nun wollen sie mit Hosti-Bros und Kratzbombe zehn Tage durch Deutschland touren. Fehlt nur noch der Fahrer -

In einer zufälligen Begegnung, die an Komik kaum zu überbieten ist, trifft Raimund in Hamburg Altona Karl Schmidt, clean seit fünf Jahren.
Karl hat sich gerade einen Eisbecher Monteverdi (ohne Eierlikör, ohne Maraschino-Kirsche!!!!! ) bestellt, trinkt Unmengen Kaffee und raucht wie verrückt...
Raimund erzählt von Berlin und Hosti-Bros und erst Tage später, Karl Schmidt ruft auf dem "arschteuren Funkding" in Berlin an, versteht er endlich, worum es geht.

Raimund: "Wir brauchen einen, der sich um alles kümmert, der uns fährt, auf das Geld aufpasst und auf uns..." Und als Charlie fragt, warum er, antwortet Raimund:
"Das war Ferdis Idee, weil du nichts nehmen darfst. Ich hab ihm erzählt, dass du nichts nehmen darfst. Du darfst doch nichts nehmen, das hab ich doch richtig verstanden, oder?"

Charlie also ist der ideale Mann, er bekommt 4.000,- DM auf die Kralle und als er endlich Othmarschen und all die Leute von Clean Cut 1 verlässt und im Zug sitzt, da bekommt er nach all dem Zögern doch ein gutes Gefühl. Jetzt geht's los. Diese Zugfahrt über Nauen nach Berlin mit den Augen von Karl Schmidt hat ebenfalls unglaublich viel Humor. Er, der nur das geteilte Berlin kennt, staunt, wie diese Stadt sich jetzt anfühlt. Bahnhof Zoo, Friedrichstraße und schließlich....

....das Wiedersehen am Hackeschen Markt.
Man ist mittendrin mit Karl Schmidt und seinen Leuten. Wie offen und verrückt und neu ist dieses Berlin der 90er Jahre, wo man die ersten Asiasuppen löffelt "mit extra scharfem Zeug zum Reinmachen" und obwohl "diese Suppen ja sowas für den hohlen Zahn sind".
Wo man noch überall rauchen darf und alles so elektrisierend ist. Techno. Rave. Partys bis in den Morgen.

Und dann die Tour, die vollen Säle. Charlie muss schließlich auch mal an die Plattenteller, weil Basti von Hosti-Bros einfach schlapp macht. Keiner der tanzenden Raver merkt das. Und für Karl Schmidt ist es DAS Abenteuer. Und wie er wieder und wieder den Drogen und dem Bier widersteht!!
Ein wirklich großer Spaß.
Ein ganz besonderer Genuß allerdings ist es, sich das Hörbuch zu gönnen. Sven Regener liest ungekürzt und mit seiner ganz einzigartigen Stimme, seinem leicht nördlichen Dialekt. Jeden Morgen nur eine Track und man geht garantiert gut gelaunt in den Tag.



Dienstag, 3. September 2013

Daniel Kehlmann. F

Die Erwartung war groß, ich gebe es zu! Ganz besonders nach "Vermessung der Welt" und auch nach "Ruhm". Aber schon die Idee der drei Halbbrüder mit den verschiedensten Lebenswegen verspricht Spannung.

Martin, Priester, glaubt nicht an Gott. Nun ja, er bemüht sich und hofft, dass ER irgendwann zu ihm spricht, dass der Glaube zu ihm kommt. So lange verteilt er erstmal die Hostien, predigt, nimmt Beichten ab. Weiß er mal keine Antwort auf eine Glaubensfrage, dann spricht er überzeugend davon, dass alles ein großes Mysterium sei. Was für eine Lüge.
Mit Mädchen kam er nie richtig gut klar, einen Bürojob hat er nie gewollt. Priester werden - das war irgendwie bequem.

Eric, Finanzberater, hat Millionen Euro seiner Kunden veruntreut, schluckt Unmengen von Pillen, hat Visionen. Was er bei aller Verwirrtheit ganz sicher weiß: es dauert nicht mehr lange, bis die Lügen auffliegen. Er ist von den drei Brüdern der verrückteste. Die Gespräche, die er führt, die Nachrichten, die er auf seinem Handy versendet, sie sind deshalb von großartiger Situationskomik geprägt. Doch so komisch sie wirken, so tragisch sind sie eigentlich. Wenn sich wattige Gleichgültigkeit um ihn legt, und er einfach weitermacht. Mit dem Wissen, eines Tages alles zu verlieren, "man wird den Namen Eric Friedland mit Abscheu nennen, wer dir jetzt noch vertraut, wird dich verfluchen, deine Familie wird zerfallen, und dich sperrt man ein."

Iwan, Kunstfälscher, wollte gern Maler werden. Von den drei Brüdern hat er die meisten Sympatien. Er führt den gesamten Kunstbetrieb ad absurdum. Skurrile Aktionen, Betrügereien und auch hier das Wissen, dass es nicht ewig gut gehen kann.

Das klingt jetzt vielleicht wie eine einfach gestrickte Story. Doch das ist es nicht. Im Gegenteil. Denn alle drei Schicksale sind durch außergewöhnliche Nebenhandlungen miteinander verknüpft. Und natürlich durch ihren selten anwesenden Vater Arthur Friedland. Hypnose und Tarot spielen eine Rolle. Was ist Wirklichkeit und was ist Schein?

Mehr kann man eigentlich nicht verraten. Nur, dass F zu lesen, ein absolut großes Abenteuer ist.
Man entdeckt so viel. Es genügt auch nicht, das Buch nach dem letzten Satz einfach zuzuschlagen. Es arbeitet weiter in den Gedanken, lässt einen so schnell nicht los. Und wie hat es auf Seite 7 eigentlich angefangen?
"Jahre später, sie waren längst erwachsen und ein jeder verstrickt in sein eigenes Unglück, wusste keiner von Arthur Friedlands Söhnen mehr, wessen Idee es eigentlich gewesen war, an jenem Nachmittag zum Hypnotiseur zu gehen.
Es war das Jahr 1984, und Arthur hatte keinen Beruf. Er schrieb Romane, die kein Verlag drucken wollte....
Auf der Hinfahrt sprach er mit seinen Söhnen über Nietzsche und Kaugummimarken... sie stellten Hypothesen darüber auf, warum Yoda so seltsam sprach, und sie fragten sich, ob wohl Superman stärker war als Batman...."